Mittelsteinzeit: Die Zeit der »Kleinen Steine«

Mittelsteinzeit: Die Zeit der »Kleinen Steine«
Mittelsteinzeit: Die Zeit der »Kleinen Steine«
 
Die mittlere Steinzeit oder das Mesolithikum, das etwa um 8000 v. Chr. mit dem Ende der Eiszeit und dem Beginn der endgültigen Wiederbewaldung Mitteleuropas einsetzte, ist die letzte Epoche, deren ökonomische Grundlage zumindest bis ins 6. vorchristliche Jahrtausend ausschließlich die »aneignende Wirtschaftsweise« war. Die Menschen beschränkten sich also darauf, das in der Natur Vorgefundene zu verbrauchen, ohne es zu vermehren. Die Bevölkerungsdichte betrug nicht mehr als circa 0,03 Personen pro km2 (auf das Gebiet des heutigen Deutschland übertragen käme dies einer Einwohnerzahl von 100 000 gleich), und der Lebensraum war eine durch den Wald geprägte Landschaft.
 
Das Ende der Eiszeit war zunächst ein rasch ablaufender, durch das Abschmelzen des Inlandeises verursachter Prozess, der eine schnelle Zunahme der Baumvegetation begünstigte. Der europäische Kontinent nahm seine heutige Form an, Skandinavien befreite sich von seinen Eismassen, und der ansteigende Meeresspiegel bewirkte eine Abtrennung Großbritanniens vom Kontinent. Waren in den ersten Jahrhunderten noch offene Grasflächen vorhanden, die auch Pferden Lebensraum boten, so bevölkerten bald Hirsch, Reh, Wildschwein, Wildrind (Ur) und Biber die sich ausdehnenden mitteleuropäischen Wälder mit ihren kleinen warmen Lichtungen. Die Menschen reagierten auf die zunehmend dichter werdende Vegetation mit ihren hoch spezialisierten Überlebensstrategien als Sammler und Jäger. Gesammelt wurde im jahreszeitlichen Rhythmus, wobei der Artenreichtum an Pflanzen im Waldbiotop groß war und eine hohe Ausbeute von April bis November erlaubte. Wildgemüse, Gewürzpflanzen, Knollen, Beeren, Obst, Pilze und nicht zuletzt Nüsse gehörten zum Speiseplan; davon fanden sich häufig Überreste in den Haselnussröstöfen an den Wohnplätzen. Die Jagd erfolgte als Ansitzjagd auf Einzeltiere und mithilfe von Fallen. Die charakteristischen Waffen der mittleren Steinzeit waren Pfeil und Bogen, wenngleich deren Erfindung weit vor den Beginn des Mesolithikums zurückreicht. Im französischsprachigen Raum wird denn auch die mittlere Steinzeit zuweilen als »Épi-Paléolithique« (= Zeit nach der Altsteinzeit) bezeichnet, um die Kontinuität der materiellen Kulturentwicklung aus dem Paläolithikum zu unterstreichen. So war die Bogenwaffe bereits zum Ende der Altsteinzeit bekannt. Die ostspanischen Felsbilder der Levantekunst informieren detailgetreu über Form und Größe der verwendeten Bögen, die selten erhaltenen Pfeilschäfte stammen aus Mooren. Die Palette der Bögen - zunächst aus Ulmenholz, später bevorzugt aus dem Holz der Eibe - war vielfältig; am effektivsten waren Langbögen, da sie Durchschlagskraft, Zielgenauigkeit und Schussdistanz optimierten. Schussversuche mit nachgebauten Bögen haben gezeigt, dass ein befiederter 90 cm langer und 80 Gramm schwerer Pfeil mit Steinbewehrung auf eine Entfernung von etwa 25 m ein 9 cm dickes Eichenbrett durchschlägt. Allenthalben finden sich auf den Lagerplätzen Überreste von Schädeln und Schulterblättern erlegter Beutetiere, die Schussverletzungen erkennen lassen. Fleisch ist ein wichtiger Lieferant von Eiweiß und Fetten, weshalb vom Jagdglück und den Fertigkeiten des Jägers das Überleben der Gruppe abhängen konnte.
 
Im Jahre 1889 fand man in der südfranzösischen Grotte Le Mas-d'Azil bemalte Kiesel und Harpunen, wobei letztere zwar denen der späten Altsteinzeit ähnelten, aber in einem Fundzusammenhang mit einer nacheiszeitlichen Tierwelt (Hirsch statt Rentier) angetroffen wurden. Damit war eine Kontinuität von eiszeitlichen, altsteinzeitlichen Jägergruppen und den im Holozän, der geologischen Gegenwart, lebenden jungsteinzeitlichen Bauernkulturen belegt. Mit ausgesiebt wurden an dieser Fundstelle jedoch bis dahin unbekannte, ungewöhnlich kleine Pfeilspitzen - bis zu 50 Stück passen in eine Streichholzschachtel -, die man fortan als Mikrolithen (griechisch = kleine Steine) bezeichnete. Diese Mikrolithen wiesen zumeist streng geometrische Formen wie Dreieck, Viereck, Kreissegment oder Trapez auf. Die kleinen steinernen Projektile sind für diese Epoche so charakteristisch, dass das Mesolithikum auch die »Zeit der Kleinen Steine« genannt werden kann. Sie werden auch zur Gliederung des Mesolithikums verwendet, europaweit stehen am Anfang Dreiecke und Dreiecksspitzen, für die jüngeren Abschnitte sind Vierecke charakteristisch. Die Mikrolithen wurden in Handschäfte aus Knochen und Holz eingesetzt, sie bewehrten Pfeile und Harpunen, dienten aber auch als kleine Kratzer und Schaber für die Lederbearbeitung, als Stichel zur Fertigung von Geräten aus Holz und Knochen, als Messereinsätze und anderes. So entstanden stets erneuerbare Kombinationswerkzeuge, die zusätzlich durch Birkenteer fixiert oder mit Sehnen zusammengebunden waren. Die für die Herstellung ihrer Steingeräte notwendigen Werkstoffe wurden meist in der unmittelbaren Umgebung der Lagerplätze aufgelesen, jedoch wurden sowohl Rohknollen wie fertige Pfeilbewehrungen aus besonders begehrtem Steinmaterial auch transportiert, 200 km und mehr sind dabei keine Seltenheit. Die weitesten Wege legten aber Schmuckschnecken zurück, südfranzösisch-marine Gehäuse fanden sich zu Tausenden in Gräbern der Schweiz und in Süddeutschland, andere stammen aus dem Pariser Becken, dem Mainzer Becken oder aus dem mittleren Donaugebiet.
 
Dr. Erwin Cziesla
 
 
Louboutin, Catherine: Steinzeitmenschen. Vom Nomaden zum Bauern. Ravensburg 1992.
 Mellink, Machteld J. und Filip, Jan: Frühe Stufen der Kunst. Berlin 1974. Nachdruck Frankfurt am Main u.a. 1985.
 
Die Menschen der Steinzeit. Jäger, Sammler und frühe Bauern, herausgegeben von Göran Burenhult. Vorwort von Colin Renfrew. Hamburg 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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